Der erste gute Tag

Kategorien Kurzgeschichten

Info: Hierbei handelt es sich um eine Kurzgeschichte, die ich ebenfalls im Sommer 2015 in einer Schreib-Werkstatt in Leibnitz geschrieben habe.

Ich habe die Straße fast für mich. Nur ein sonnengelber Twingo fährt vor mir auf der Autobahn. Im Kofferraum stapeln sich die Reisentaschen, und auf den beiden vorderen Sitzen sehe ich einen jungen Mann und eine Frau, die sich gegenseitig durch die Haare fahren, und sich einmal, als die Autobahn keinerlei Kurven hat, leidenschaftlich küssen. Ich drehe das Radio lauter und summe leise mit, bis ich plötzlich unwillkürlich innehalte. Wie lange habe ich schon nicht mehr bei Liedern mitgesummt?Ewigkeiten muss es her sein, denke ich, und: heute ist der erste gute Tag seit langem. Die Ausfahrt zum Meer taucht auf. Der gelbe Twingo fährt geradeaus weiter. Im Stillen wünsche ich dem Paar darin einen schönen Tag. Wenige Meter noch, dann erreiche ich das Meer. Es ist nicht viel los dort. Ich steige aus und nehme die Kisten aus dem Kofferraum, in denen ich vier leere Marmeladengläser transportiert habe. Ich glaube, ich habe noch nie so viel Marmelade gegessen wie in den letzten paar Wochen.Eines nach dem anderen fülle ich mit dem feinen Sand, dabei achte ich penibel darauf, dass keine Tierchen oder Pflanzenreste mitwandern. Das letzte Glas lasse ich leer, und laufe damit bis zum Wasser. Neben mir steht ein Paar, etwas älter als das auf der Autobahn, gemeinsam mit einem kleinem Mädchen, etwa fünf Jahre alt. Es hat braune Locken und große Augen, und ich sehe ihr einige Minuten dabei zu, wie sie tollpatschig über den Sand watschelt. Ihre kleinen Füße sinken immer wieder ein, und wenn sie fällt, rappelt sie sich lachend wieder auf. Sie erinnert mich fast an bisschen an die vielen Fotos von mir selber, als ich noch ein kleines Mädchen war, und meine Eltern mit mir ans Meer gefahren sind. Wie gerne würde ich noch einmal zu dieser Zeit zurückkehren.

Schließlich widme ich mich wieder meiner eigentlichen Aufgabe. Ich will Muscheln sammeln, und vielleicht ein paar Schneckenhäuser, hauptsache es gefällt ihm. Ich bücke mich ein paar Mal, finde hin und wieder etwas, das ich in das Glas lege, da steht plötzlich das kleine Mädchen vor mir und streckt ihre Hand aus. Darin liegen viel mehr Muscheln, als ich bisher schon gesammelt habe. Überrascht bücke ich mich hinunter und sie lässt ihren Fund in das geöffnete Glas kullern. „Danke.“ sage ich, lächele dem Paar zu und winke der Kleinen hinterher. Als ich wieder im Auto sitze, sehe ich im Rückspiegel die Eltern mit ihrem Kind Engelchen flieg spielen.

Kaum habe ich die Autobahn wieder erreicht, vibriert mein Handy. Es ist Leo. Wann kommst du denn? Schreibt er. Er wartet auf mich. Seit heute morgen schon.Aber Überraschungen müssen eben manchmal verzögert sein, um ihren Sinn zu erfüllen. Ich lege das Handy auf den Beifahrersitz, aber keine zwei Minuten später meldet es sich erneut, diesmal mit einem Anruf. Es ist Lily, meine beste Freundin, die sich erkundigt, ob ich zum Essen kommen will, bevor ich zu Leo fahre. Erst will ich ablehnen, er wartet doch schon so lange auf mich, aber anderseits hatte ich in den letzten Wochen viel zu wenig Zeit für Lily, und ich weiß genau, dass sie es nur gut meint. Sie will mich immer ablenken. Also sage ich zu und lege auf, und weil ich kein weiteres Risiko eingehen will, das Handy unerlaubt beim Fahren zu benutzen, schalte ich es aus. „Die Hitzewelle ebt auch in den nächsten Tagen noch nicht ab.“ verkündet der Radiosprecher. „Auch morgen werden wieder Höchstwerte von bis zu 36 Grad in ganz Deutschland erwartet.“

Einen winzigen Moment lang schließe ich die Augen und bin wo anders. Ich bin am Badesee, im Park, oder wieder am Meer, und ich bin nicht alleine. Er liegt neben mir, so wie er immer neben mir gelegen ist, und alles wird so gut sein, dass wir uns die schlechten Tage gar nicht mehr vorstellen könenn.

Mit guter Laune erreiche ich schließlich die Stadt und biege in die Straße meiner besten Freundin ein. Im Garten spielen ihre Zwillingstöchter Marie und Jana Fangen und spritzen sich gegenseitig nass. Lachend steige ich aus, winke ihnen zu und umarme Lily, die auf der Terasse schon mit dem Essen wartet.Wie ich sie kenne, hat sie wieder einmal ein ganzes Menü gezaubert. „Ich freue mich so für dich.“ sagt sie mit feuchten Augen. „Und für Leo erst!“ „Danke.“ Ich drückt sie fest an mich, aber nur kurz. „Nehm es mir nicht übel, aber ich will mich beeilen. Leo wartet schon!“

Aber natürlich.“ Und sie stellt mir vor, was sie gekocht hat. Es ist wirklich ein Traum. „Eigentlich wollten wir den Grill noch anwerfen.“ meint sie am Ende. „Aber dazu hat die Zeit nicht mehr gereicht.“ „Kein Problem.“ sage ich.

Wenn Leo zuhause ist, werde ich auf jeden Fall unseren Grill hervor holen und ihm ein Grillmenü anbieten, wie letzten Sommer. Auch wenn er damals immer gelacht hat, wenn ich gerade einmal dabei war, den Rost abzuschrubben. „Machst du wieder deine Spezialwürste á la angebrannt?“ fragte er mich dann, oder: „Irgendwann wirst du noch deine eigene Grillbude eröffnen!“So viele Spezialwürste wie er essen kann, werde ich ihm nächstes Jahr braten. Am besten macht er sich schon mal darauf gefasst.

Nach dem Essen fällt mir mein ausgeschaltetes Handy wieder ein, und ich bekomme ein schlechtes Gewissen. Leo so auf die Folter zu spannen ist nicht gerecht. Während Lily den Nachtisch vorbereitet, hole ich das Handy aus dem Auto, und natürlich hat Leo noch einmal geschrieben, und außerdem drei Mal angerufen. Schatz jetzt meld dich doch mal! Ich muss lächeln. Mein Freund ist bestimmt das ungeduldigste Wesen unter der Sonne. Ich stecke das Handy ein und genieße den Nachtisch, Tiramisu mit Kakaopulver und einem hellgrünen Blatt darauf, dass intensiv duftet. Süßlich, und gleichzeitig sehr markant. „Zitronenverbene.“ erklärt Lily. „Sehr gefragt wenn es um Nachspeisen geht.“ Ich lasse mir das Blatt auf der Zunge zergehen. „Sag mal, hast du mehr davon?“ Klar. Warte.“ Und sie verschwindet in ihrem Kräutergarten. Kurz darauf übergibt sie mir ein ganzes Büschel an duftenden Blättern.Vielen vielen Dank.“ Ich umarme sie noch einmal. „Machs gut.“ gibt sie zurück.„Sag Leo alles Liebe von mir. Ihr kommt doch nächste Woche zur Gartenparty oder?“

Ich nicke, winke Lilys Kindern zu und steige ins Auto. Meine Vorfreude wächst und wächst. Nur noch wenige Minuten. Das Krankenhaus ist nicht weit weg. Wochen und Monate lang habe ich den Ort verabscheut, an dem statt in Jahreszeiten in Chemoblöcken gezählt wird, der Ort an dem ein Ventilator zwar der Hitze gegensteuern, aber nicht den kühlen Abendwind auf deiner Haut ersetzen kann. Hier hat mein Freund seinen halben Sommer verbracht. Heute ist der erste gute Tag seit langem.

Ich trage die gefüllten Marmeladengläser und sorgfältig den Gang entlang, bis ich Leos Tür erreiche.Von drinnen hört er die tiefe Stimme des Chefarztes, ansonsten nichts. Stille. Ich reiße die Türe auf. „Was ist los?“ Da bist du ja endlich!“ sagt Leo. Er sitzt in seinem Bett, aufrecht und gleichzeitig eingesunken. Der Chefarzt kommt, und schüttelt mir die Hand. „Guten Tag. Wir haben leider schlechte Neuigkeiten. Ihr Freund kann heute nicht nach Hause.“ „Und morgen?“ frage ich vollkommen verwirrt. „ Morgen auch nicht.“ Er schüttelt bedauernd den Kopf.

Leo sitzt stocksteif da.

Ich schaue aus dem Fenster, in den Sommer, der plötzlich fern scheint. Das war der erste gute Tag seit langem.

Mein Name ist Tabitha Anna und ich bin 24 Jahre alt. Ich komme aus dem Süden von Baden-Württemberg und liebe es, zu lesen, zu schreiben und zu reisen. Seit Oktober 2019 studiere ich deutsche und italienische Sprach- und Literaturwissenschaft in Freiburg im Breisgau.