I was there | PrayForIstanbul

Kategorien Weltgeschehen

Ich kann es selber kaum glauben, aber diesen Blog gibt es jetzt tatsächlich schon fast ein Jahr. In dieser unschätzbar langen Zeit habe ich vor allem eines gelernt: es gibt Blogposts, die schreibe ich weil es mir Spaß macht und weil sie interessant sein könnten, und dann gibt es noch die wichtigen Blogposts. Die Wichtigen sind die, die einst nur Gedanken waren, die in meinem Kopf herumgespukt sind, und einfach nicht losgelassen. Sie entstehen vorzugsweise, wenn ich schon totmüde im Bett liege, oder unterwegs bin und nur das Handy zum Bloggen habe. Aber in solchen Situationen kann ich einfach nicht anders, als nochmal auf mein gutes altes Dashboard zu gehen und einen neuen Beitrag zu schreiben.

So ging es mir am 22. März, und so geht es mir heute, und das hängt zusammen auf eine Art und Weise, die ihr spätestens dann versteht, wenn ihr den Beitrag von damals noch einmal lest. Ich sehe noch vor mir, wie ich auf dem Bett gelegen bin und so furchtbare Angst hatte, vor dem Moment in dem das nächste Mal die Sonne aufging. Weil damit der Tag begann, an dem ich zum ersten Mal in meinem Leben in ein Flugzeug steigen würde, das mich auf einen anderen Kontinent, in irgendeine Ecke Asiens bringen sollte. Alles war so auf einmal fremd und bedrohlich, aber das, wovor ich mich so fürchtete, war eher die Zwischenstation zwischen Frankfurt und Shanghai:

der Atatürk-Flughafen in Istanbul.

Tage vor unserem Abflug gab es in Istanbul Terroranschläge, verübt vom IS, und an besagtem letzten Tag in Deutschland haben sich die schlimmen Anschläge in Brüssel ereignet. Es klingt vielleicht makaber, aber genau diese Geschehnisse hätten eigentlich dafür sorgen müssen, dass ich mich beruhigter fühle. Mit der Stochastik stehe ich auf Kriegsfuß, aber so viel kapiere ich: die Wahrscheinlichkeit für ein schlimmes Ereignis steigt mit jedem Tag, der seit dem letzten vergangen ist. Insofern hätte ich einfach total beruhigt sein können – auch der letzte Flugzeugabsturz lag gerade mal ein paar Tage zurück – aber das war ich nicht.

Auch nicht, als wir eine Nacht später wirklich in Istanbul waren. Da es circa Mitternacht war, war der Flughafen aber komplett leergefegt, wir waren fast die einzigen und alles war so ruhig, dass ein Krawall unmöglich schien. Wenn ich ehrlich bin, war diese Stunde im nächtlichen Istanbul sogar eine der entspanntesten während der ganzen Anreise. Und ich habe in meinem ganzen Leben noch nie so etwas Schönes gesehen wie Istanbul bei Nacht, vom Flugzeug aus. Ein Lichtermeer aus Geschichten, das so unverletzlich und anmutig aussah, dass ein Terrorakt unmöglich schien.

In der folgenden Woche an China habe ich fast mit keinem Gedanken an den Terror in Europa gedacht. Asien ist so eine andere Welt, und ich war nicht nur körperlich sondern auch geistig ganz weit weg von dem, was in Paris und Brüssel passiert ist.

Erst als das Flugzeug, das uns von Shanghai nach Istanbul brachte, zum Landeflug ansetzte, kam die Angst zurück, wie ein alter Freund der schon auf einen wartet, ob man es will oder nicht. Auf der einen Seite fühlte ich mich wieder viel unsicherer als in Asien, wo der Terror so weit weg schien, auf der anderen Seite war Istanbul für mich schon so nah an Zuhause – in Relation mit China erscheint einem die Türkei irgendwie wirklich fast wie „daheim“ -, dass ich mir eine Terrorattacke auch kaum vorstellen konnte. Es war aber deutlich mehr los, als bei unserem ersten Zwischenstopp, was vermutlich daran lag, dass es dieses Mal schon früher Morgen war. Bei der Sicherheitskontrolle staute es sich ewig, überall um mich herum waren Menschen aller Nationen und Sprachen. Was in China so spannend und faszinierend war, fühlte sich hier plötzlich bedrohlich an. Ohne Witz, zu dem Zeitpunkt war ich noch so von der Angst eingenommen, dass ich mich nur umgesehen und gedacht habe: Ihr seid also die Menschen, mit denen ich sterbe, falls jetzt die Bombe hoch geht. Zwei Kinder mit dunkler Haut und schwarzen Locken. Eine Nonne. Zwei französische, kichernde Mädchen. Tausend Geschichten, geballt in einer Flughalle, so viel zerbrechlicher als wir es alle für möglich halten. In Sekunden kann sich alles ändern.

Welch ein Glück, uns ist es nicht passiert.

Meine Reise nach China schien so lange her, bis ich heute meinen Laptop hochgefahren habe und die Meldung „Terroranschlag in Istanbul“ gesehen habe. Ein oder zwei Sprengstoffgürtel, Verletzte und Tote am Flughafen in Atatürk. Mir lief eine Gänsehaut über den Rücken bei den Worten. Da waren wir. Was für ein lächerlicher Gedanke, was für ein Grund, durch zu drehen. Wie viele Leute waren vor dem 13. November in Paris? Oder vor 2016 in Brüssel? Es ist nicht mehr so, dass die bösen, schlimmen Dinge nur noch auf anderen Kontinenten geschehen, die niemand jede Ferien bereist. Der Terror ist in Europa angekommen. Aber trotzdem, gerade weil Atatürk für mich vorher schon so ein Ort der Angst war, ist es komisch zu wissen, dass sich meine Befürchtung wenige Monate später realisiert hat. An diesem Dienstag im Juni war die Halle vermutlich genau so voll wie bei mir damals. Vielleicht waren da die selben Kinder, eine andere Nonne und Mädchen, die genau so lustig waren wie die Französinnen. Es sind nicht die selben Geschichten wie damals, aber sie haben den selben Wert. Ich denke an die ganzen Gänge und Aufzüge und Gates des Flughafens, und denke: Und genau da ist es passiert. Das ist irgendwie so krass.

Egal ob der IS hinter der Tat steckt oder die PKK, es ist nicht schön zu hören, dass der Terror schon wieder Istanbul heimgesucht hat. Er macht einfach nicht Halt, vor der Stadt, die von oben so schön leuchtet. Naiv und idealistisch wie ich bin, frage ich mich tatsächlich, ob diese Terroristen genau so handeln würden, hätten sie diese Stadt auch nur einmal aus meinen Augen gesehen. Ein noch so schmales Flugzeugfenster konnte nicht verbergen, wie viele tausende von Lichter dort bei Nacht zu sehen sind, wie Häuser zu Mosaiksteinen werden und die bunten Wolkenkratzer das Bild lebendig machen.

Sie könnten all das sehen – und würden es vermutlich trotzdem tun. Wir verstehen sie nicht. Können wir auch gar nicht, schätze ich. Unsere Weltansicht ist eine andere. Auch wenn es in gewisser Weise jeder Terroranschlag schafft, die Angst in uns zu schüren, hoffe ich, dass wir uns niemals unterkriegen lassen werden. Ich hatte solche Angst vor der China-Reise, und müsste ich jetzt nach dieser Nachricht nochmal gehen, hätte ich wahrscheinlich noch viel mehr Angst. Aber die Wahrheit ist dass China das beste, größte und schönste Abenteuer meines Lebens war, und so etwas will ich nicht verpassen, nur weil die Angst mich wieder packt und steuert.

Es war es Wert, so sehr, und wir müssen da raus gehen, um zu zeigen, dass wir uns nicht unterkriegen lassen. Angst und Panikmache dürfen Begleiter einer Epoche sein, aber niemals das Ziel. Das Ziel für uns ist, fundamentalistischen Ansichten keine Chance zu geben. Ich glaube daran, dass wir das schaffen.

Mit unseren tausenden Geschichten, und der Hoffnung, dass jede davon gut ausgehen kann.

#PrayForIstanbul

 

Mein Name ist Tabitha Anna und ich bin 24 Jahre alt. Ich komme aus dem Süden von Baden-Württemberg und liebe es, zu lesen, zu schreiben und zu reisen. Seit Oktober 2019 studiere ich deutsche und italienische Sprach- und Literaturwissenschaft in Freiburg im Breisgau.