Zum Teil erfundene Kurzgeschichte, das Leben schreibt die besten Geschichten und du fehlst und bist doch immer da


Meine Finger umklammerten die Stängel des kleinen Straußes, als müssten sie ihn zerquetschen. Nichts in der Welt hätte mich dazu gebracht, locker zu lassen. Die Menschen um mich herum sahen zu Boden, keiner sprach. Das einzige Geräusch war das kontinuierliche Surren der Lüftung, technisch, neutral. Der ständige Luftaustausch verhinderte, dass es in dem kleinen Raum begann, nach Tod zu riechen. Die Schlange der Menschen die von draußen kamen war schier unendlich. Sie betraten den Raum, nahmen den schmalen grünen Buchszweig aus der Schale und ließen das Wasser auf den Sarg tropfen. Sie hatten ihn alle auf irgendeine Weise gekannt, meinen Großvater, jetzt wollten sie Abschied nehmen, dann den Raum verlassen. Drinnen blieben nur die engsten Verwandten.

Auch wenn das schwere, helle Holz verbarg, was wir beweinten, sah ich es immer und immer wieder vor mir. Ihn.

Wenn ich Streit mit meinen Eltern hatte, war er auf meiner Seite, während sie mich anschrien, zwinkerte er mir zu. Als ich ein Baumhaus wollte, baute er mir ein kleines Haus in unseren Garten ohne Bäume. Seit er gestorben war, träumte ich jede Nacht den gleichen Traum.

Ruckartig hob ich den Kopf, durch die Tränen, die sich vor meinen Augen gebildet hatten, erkannte ich den Bruder meines Großvaters. Er stand auf der anderen Seite des Raumes, und ich erschauderte vor der Ähnlichkeit, die sein Gesicht mit dem seines Bruders hatte. Wie er die Augen senkte. Wie sich sein Mund bewegte. Ganz bestimmt glaubte er, unbeobachtet zu sein, denn er starrte auf den Sarg und schüttelte dabei den Kopf, wie als wollte er sagen: „Das hast du nicht gemacht. Das ist nicht dein Ernst.“

Mein Großvater starb eine Woche und 3 Tage lang, und alle hatten ihn besucht. Meine Familie, die meiner Cousine, die Familien meiner Cousins. Die Geschwister meines Großvaters waren nicht gekommen, und als ich wissen wollte wieso, hatte meine Oma nur müde abgewinkt. „Streit um Geld. Sieh zu dass du und deine Schwestern nicht so werden.“

Neben mir atmete meine Schwester lauter als normal. Meine kleine kleine Schwester, die neulich 14 geworden und zum ersten Mal Alkohol getrunken hatte. Sie schien nur die ganze Zeit heftig ein und aus zu atmen, während meiner jüngeren Schwester die Tränen über das Gesicht liefen wie Regentropfen an der Autoscheibe, die man als Kind gespannt beobachtet und im Stillen wettet, welche Spur zuerst das Ziel erreicht.

Wenn jemand unterwartet stirbt, heißt es: „Hätte man doch wenigstens Zeit gehabt, um Abschied zu nehmen!“ Weil ein langer Tod ein erwarteter Tod ist, eine absehbare Katastrophe. Ich glaube, mein Großvater wäre gerne ein bisschen schneller gegangen. Ein bisschen plötzlicher. Ein bisschen schmerzfreier. Stattdessen war es jahrelanger Zerfall, der in einen Krankenhausaufenthalt mündete, wo jeder Tag anders aussah und meine Großmutter hin- und hergeworfen wurde zwischen Hoffnung und Resignation. Ich sehe mich am Krankenhausbett sitzen als wäre es gestern gewesen. Ich hielt seine Hand und sagte ihm, dass ich ihn lieb hatte. Ich versuchte, ihm mit Gedankenübertragung beim Atmen zu helfen. Ein, aus, das einfachste Prinzip der Welt. Zwei Wochen später war er tot.

Als wir diesen kleinen Raum betreten hatten, der fast komplett von dem Sarg und den Blumen dominiert wurde, hatte ich es das erste Mal geschafft, zu weinen. Weil es nicht mehr theoretisch war, sondern so verdammt echt, dass mich der Schmerz nicht länger suchen musste. Ich war froh, weinen zu können, weil es sich normal anfühlte, aber ich schämte mich auch. Ich schämte mich vor meinem Vater, der seinen Vater verloren hatte und vor meiner Großmutter, deren Ehemann gestorben war. Ich schämte mich auch vor meinen Freunden, die auch da waren, obwohl ich ohne sie wohl gar nicht erst gekommen wäre.

Kurz vor dem Rosenkranz saß ich in der Werkstatt meines besten Freundes und sah den winzigen Holzpartikeln zu, die im Licht der untergehenden Sonne tanzten. Von weitem waren schon die Kirchenglocken zu hören, die den Rosenkranz ankündigten, und ich war noch fest davon überzeugt, nicht hinzugehen. Ich war es Leid, die Beileidsworte der Leute zu hören, die seit Sonntagabend, 22:52 Uhr auf uns einprasselten. In mir wuchs der Hass auf die Gesichter, die betont traurig und betroffen waren, nur weil es sich gehörte.

„Du gehst da mit uns hin.“ sagte Augustus zu mir. „Für deine Familie. Für was auch immer.“ Er baute konzentriert an etwas herum, von dem ich nicht im Geringsten erahnen konnte, was es werden sollte. Seit dem Tod seines Vaters war Augustus ständig in der Werkstatt, so wie meine Großmutter nicht mehr aufhörte, Kuchen zu backen, seit der Krankenwagen vor 3 Wochen gekommen war. Apfelkuchen. Johannisbeerkuchen. Erdbeertorte.

„Ich kann sie alle nicht leiden, und ich kann den Rosenkranz nicht leiden.“ sagte ich. Augustus sah mich an. „Dann musst du so tun als ob. Für deinen Großvater.“

Als wir zusammen in die Grundschule gekommen waren, hatten wir den gleichen Schulweg. Auf dieser Strecke gab es ein fliederrosa Haus, mit kleinem Garten und einem ordentlich gepflasterten Weg. Niemand wusste, wer den Garten pflegte und den Rasen mähte, denn dieses Haus war unbewohnt gewesen, so lange ich denken konnte. Eines Tages, auf dem Nachhauseweg, war Augustus unvermittelt in den kleinen Pflasterweg abgebogen und hatte dort geklingelt. Auf meine entgeisterte Frage was das solle, kam er zu mir zurück und sagte: „Ach ich wollte nur ausprobieren wie es sich anfühlt, in dem schönen Haus zu wohnen. Als hätte gleich meine Mutter die Türe aufgemacht und gesagt: ´Hallo Augustus, es gibt Spagetti!´ Ich wollte einfach so tun als ob.“

„Was, wenn es ihm nicht gefallen würde?“ fragte ich leise. „Würde es ihm sicher nicht.“ Augustus schraubte energisch etwas fest, dann betrachtete er zufrieden sein Werk. „Aber was glaubst du, wie oft musste er in seinem Leben so tun als ob.“

Zeit war relativ, wenn man in einem Raum mit Lüftungsanlage stand und einen hellen Holzdeckel anstarrte, der sich nicht mehr heben würde. Tage und Jahre hätten vergehen können, und ich wäre immerzu dort standen geblieben, den Blumenstrauß umklammernd.

Der Traum kam zurück in meine Erinnerung, die Vorstellung wie mein Großvater die Arme ausbreitete und ich in sie hineinsank. Ich weinte, und er tröstete mich, und er war nicht dement und hatte kein Wasser in der Lunge. Alles war so wie es sein sollte und ich wollte für immer gefangen sein in diesem Moment. Und dann, wie auf ein geheimes Signal, fielen mir alle Momente ein, die wir teilten. Die schönen und die neutralen, die schlechten und die selbstverständlichen. Eine Millionen Mittagessen neben ihm, Stunden mit ihm im Sandkasten, die ich nur von meinen Kinderfotos kannte, der Moment in dem er mir das fertige Gartenhaus präsentierte. Und dieser eine Abend, an dem ich meiner Großmutter beim Ernten der letzten Erdbeeren im Garten geholfen hatte, und danach noch ins Wohnzimmer ging, wo mein Großvater im Sessel lag und Fernseher sah. Dieser Tag lag bestimmt zwei Jahre zurück, aber ich hörte noch in meinem Kopf die Worte, die wir wechselten. „Du bist noch so jung…“ sagte er. „Wenn ich du wäre, ich würde die Welt bereisen. Du musst das alles sehen – Amerika, Australien, den Norden. Ach, ich bin zu alt für das alles, aber wenn ich du wäre…“

Ein warmer Sommerabend, an dem ich süße Erdbeeren aß und das Leben unendlich schien. Eine Momentaufnahme, die mich zwei Jahre später wieder lächeln, und das Leben heller schienen ließ. Ich sah auf. Ich lächelte in die Menschen und spürte die Tränen trocknen.

„Bis morgen zur Beerdigung.“ sagte irgendwann jemand. Die Gesellschaft löste sich auf. Ich verließ mit meiner Großmutter als letzte den Raum, ließ das Surren zurück, und die Hülle in der einst mein Großvater steckte. Meine Freunde hatten nicht gewartet. Ich sah sie am Ende der langen Straße laufen, Augustus drehte sich kurz um, war aber in Gedanken gewiss schon wieder in der Werkstatt. Was mich erneut zum Lächeln brachte.

„Du hast da was unter dem Auge.“ Meine ältere Cousine stupste mich leicht an. Mein Lächeln wurde zum Grinsen. „Gleichfalls. Sieht mir nicht nach wasserfester Wimperntusche aus.“ „Hallo, Vorsicht!“ Mein Onkel hechtete atemlos meinem kleinen Cousin nach, der sich bereits auf das nächstbeste Grab stürzen wollte, um ein paar Blumen zu pflücken. „Du, das geht so nicht!“

Da mussten wir alle lachen, selbst meine Großmutter konnte es nicht verbergen.Über uns zog ein Flugzeug einen weißen Streifen in das Blau.

Wenn ich du wäre, ich würde die Welt bereisen.
Vielleicht, dachte ich, würde das Leben immer wieder besser werden.

Selbst wenn wir eine Weile nur so tun mussten, als ob.

Mein Name ist Tabitha Anna und ich bin 24 Jahre alt. Ich komme aus dem Süden von Baden-Württemberg und liebe es, zu lesen, zu schreiben und zu reisen. Seit Oktober 2019 studiere ich deutsche und italienische Sprach- und Literaturwissenschaft in Freiburg im Breisgau.